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Tag 278 – 279: Das große vorsingen…

Tag 278 – 279
40° 46′ 0″ N, 29° 55′ 0″ E
2815Km – Kocaeli.
Mittwoch, 12.12.2012 – Donnerstag, 13.12.2012

Es ist erst 2 Wochen her das wir Istanbul verlassen, und den Asiatischen Kontinent betreten haben…
Mittwoch der 12.12.2012 war ein Tag welcher mir noch lang in Erinnerung bleiben wird…

Es ist gegen 16Uhr. Gamze ist gerade auf den Weg zur Schule als sie 2 merkwürdige Gestalten mit großen Rucksäcken auf sie zukommen sieht.
Sie ist schüchtern und spricht kaum englisch. Dennoch brennt sie darauf zu erfahren was die beiden machen. Nie zuvor in ihrem jungen Leben hatte sie so etwas gesehen.
Sie nimmt all ihren Mut zusammen und spricht uns an.
“Wenn ihr mit den großen Rucksäcken in die Schule wollt, die ist dort, da seit ihr gerade dran vorbei.”

Da ihr Englisch sie bald verlässt, sie jedoch noch mehr von uns erfahren möchte, nimmt sie uns an die Hand und führt uns in die Schule.

Der Schulhof ist voll von Schülern. Sie stehen in Gruppen zusammen, unterhalten sich.
Im hinteren Teil des Schulhofs wird Volleyball gespielt.
Wir gehen an einer Gruppe von Schülern vorbei. Sie können ihren Blick nicht von uns abwenden, stecken lächelnd ihre Köpfe zusammen und tuscheln.
Was sie sich erzählen können wir nur vermuten…

Es geht sofort in die 2. Etage – Das Lehrerzimmer.
Dort finden wir ihre Englischlehrerin.
Ihr erzählen wir ausführlich in allen Details welchen langen Weg unsere Rucksäcke schon zurückgelegt haben, welche Länder wir bereisten und was es dort alles zu entdecken gibt.

“Könnt ihr das morgen vor der ganzen Klasse erzählen?”, fragt sie mit leuchtenden Augen.
‘Ich würde gern. Doch noch wissen wir nicht wo wir heut Abend bleiben werden’, dachte ich.
Und als ob sie Gedanken lesen kann fährt sie fort: “Ihr könnt heut Abend bei uns im Lehrerwohnheim schlafen. Dort gibt es noch genug freie Betten.”

Am nächsten Morgen bin ich etwas aufgeregt. Ist eine Weile her das ich in in einer Schule Vorträge gehalten habe.
Das letzte mal in Rumänien.
Es hat sich natürlich schon rumgesprochen das heute 2 Fremde in die Schule kommen.
Dort angekommen, sehen wir das alle Klassen schon an den Fenstern auf uns warten.
Ein beeindruckender Anblick welcher meiner Anspannung nicht sehr entgegenkommt.

Nachdem wir kurz im Lehrerzimmer waren, führt uns unser erster Weg in die Klasse 10c.
Die Lehrerin stellt uns kurz vor und wir halten unsern Vortrag. Das klappt sehr gut. Leanne und ich wechseln uns oft ab und ergänzen uns prima. Die Schüler stellen interessiert viele Fragen und die Lehrerin übersetzt.
Ich bin erleichtert und die Anspannung fällt allmählich ab.

Als wir fertig sind steht eine Schülerin auf und fragt ob sie uns etwas vorsingen darf.
Klar. Da haben wir nichts dagegen.
Ich wusste nicht worauf ich mich da einlasse. Doch dazu später.

Alles wird still. Gespannt warten wir auf den ersten Ton ihrer Stimme.
Sie kann wunderschön singen. Ich glaube sie ist die beste Sängerin in der Klasse und sich dessen vollkommen bewusst. Voller Stolz und Selbstbewusstsein trägt sie ihr Lied vor. Die ganze Klasse applaudiert. Und wir tun es ihnen gleich. Sie hat die Messlatte sehr hoch angesetzt.

Nun passiert etwas ungewöhnliches womit ich nicht gerechnet hatte.
Sie bitten mich etwas zu singen.
In dem Moment wünsche ich, dass sich vor mir ein großes schwarzes Loch öffnet durch das ich verschwinden kann.
Meine Unsicherheit kehrte schlagartig zurück.
Bis jetzt konnte ich meine Nervosität durch lautes reden verbergen.
Und natürlich versuche ich meine Nervosität zu überspielen, bin mir jedoch sicher das die Schüler diese zweifelsohne bemerkt haben.
Es ist leicht in den Gesichtern anderer Menschen zu lesen wenn man die Sprache und die Worte nicht versteht.

Ich zögere. Mit einem Lächeln sage ich: “Nein”.
Doch im Grunde nur, um etwas zu sagen. Ich musste Zeit gewinnen.
Denn Jugendliche haben eine ganz bestimmte Eigenschaft: Wenn sie etwas wollen lassen sie nicht so einfach locker.

Ich weiß das es nur sehr wenige Menschen gibt die jetzt gerade mit mir tauschen wollen. Irgendwo habe ich einmal gelesen, dass die Angst, sich vor anderen zu blamieren größer ist als die Angst vor dem Tod.
Da stand er nun. Er war über 2.800Km gewandert. Durch Länder wie Rumänien und Bulgarien. Und nun sollte er einer Schulklasse etwas vorsingen.
In solchen Momenten fühlt man sich sehr allein und hilflos.

Ich erinnere mich zurück an meine Schulzeit.
Wo ich unzähligen male vor der Klasse stand und die Hausaufgabe an die Tafel schreiben, oder ein Gedicht vor der Klasse aufsagen sollte, welches ich natürlich nicht gelernt hatte.
Das kennt sicher jeder wenn er sich an seine Schulzeit zurück erinnert. Und ich erinnere mich das Schule irgendwie nie so richtig Spaß gemacht hat…
Außer Biologie. Nicht weil ich das Fach besonders mochte, nein, sondern weil dass das einzige Fach war wo ich direkten Blickkontakt zu meiner Jugendliebe hatte…
Ich saß an der Fensterreihe, sie am anderen Ende des Raumes an der Eingangstür.
Einmal trafen sich unsere Blicke und die Zeit schien still zu stehen. Wir sprachen nie miteinander.
Ich habe es ihr nie gesagt…
Aber das ist ‘ne andere Geschichte.

Zurück zur Gegenwart.
Mein Blick schweift auf die Schulglocke, welche neben der Uhr, über der Tür hängt.
Ich hoffe das die Schulglocke ertönt und mich aus dieser Situation herausholt. Doch das geschieht nicht.
29 Schüler gucken mich mit großen Augen an und warten darauf das ich zu singen beginne. Eigentlich 31 denn Leanne und die Lehrerin warten mindestens genauso gespannt.

Bevor ich nochmal Nein sagen kann fielen mir die Zeilen eines Liedes wieder ein:
“Do one thing every day that scares you. Sing!”
(“Mach jeden Tag etwas wovor du Angst hast. Sing!”)
(Baz Luhrmann – Everybody’s free (The sunscreen song))

Ich hatte oft in meinem Leben Nein zu Dingen gesagt zu denen ich gerne Ja gesagt hätte.
Warum nicht diesmal ein Ja wagen?

Ich glaube, es sind nicht die Fehler die wir in unserem Leben gemacht haben welche wir bereuen. Es sind eher die Dinge die wir nicht getan haben.
Es muss ein schlimmes Gefühl sein wenn man im hohen Alter im Schaukelstuhl sitzt, auf seine Vergangenheit zurück schaut, all die verpassten Chancen und Gelegenheiten sieht, und sich fragt: Was wäre gewesen wenn…
Und dann keine Antwort zu finden weil man es nie versucht hat…

Der erste Ton kommt sehr zögerlich. Mein Mund ist trocken. Die Temperatur im Raum ist um gefühlte 30°c gestiegen. Schweißperlen bilden sich auf der Stirn.
Mit sehr weichen Knien singe ich: “Snow Patrol – Run”
Eines der wenigen Lieder dessen Text ich auswendig kann. Es gefiel mir sehr seit ich es das erste mal in einer dieser Casting Shows gehört hatte.

Was dann passierte weiß ich nicht mehr.
Ich erinnere mich an alles, nur nicht an den Moment wo ich zu singen begann.
Was ich weiß: Sie nahmen den Titel nicht wörtlich. Sie rannten nicht aus dem Klassenzimmer.
Und als ob die Pausenglocke geduldig zugehört hat, ertönt sie mit der letzten Note.

Zu meiner Freude durfte Leanne dann in der nächsten Klasse die gleiche Erfahrung machen und auch über heiße Kohlen laufen.

In den großen Pausen spielen wir auf dem Schulhof Volleyball. Neben dem Laufen meine lieblings Sportart.
Immer wieder kommen Schüler hinzu und sprechen mit uns.
Von einer Schülerin wurden wir eingeladen über Nacht bei ihr und ihrer Familie zu bleiben.

Die Lehrer und die Schüler reagieren sehr positiv auf unsere Vorträge.
Für den nächsten Tag bekommen wir noch einen Laptop und einen Projektor und können so einige Fotos präsentieren.

Etwas merkwürdiges stelle ich fest und spreche in den Pausen mit dem Direktor und einigen Lehrern darüber.
In den Klassen sind, für mich, ungewöhnlich viele Mädchen, jedoch relativ wenig Jungs.
“Ja, es ist merkwürdig aber das ist völlig normal in der Türkei”, sagt der Direktor. Es ist eine Hochschule.
Hier werden die Klassen 9-12 unterrichtet.
Das Schulsystem schreibt 8 Jahre vor. (Früher waren es sogar nur 5 Jahre.)
Viele Jungen verlassen nach der 8. Klasse die Schule und wollen Geld verdienen.
Die meisten Mädchen hingegen machen noch die 4 Jahre Hochschule und beenden erst nach 12 Jahren die Schule.
Sie sind sehr gut ausgebildet, heiraten meist jedoch sehr früh und sitzen dann oft zu Hause und passen auf die Kinder auf…

Ich sang vor der Klasse, spielte seit sehr langer Zeit wieder Volleyball, wir haben mit den Schülern gelacht obwohl wir unterschiedliche Sprachen sprechen, ich habe mich an meine Schulzeit zurückerinnert und weiß das gewisse Dinge im Leben nicht nachholbar sondern für immer verloren sind.
Und was in dem Artikel über die Angst nicht drin stand war, dass die Angst vor dem Leiden größer ist als das Leiden selbst…

Um 16Uhr, als der Tag langsam zu Ende ging packten wir unsere Rucksäcke…
…gingen noch einmal ins Lehrerzimmer…
…und verabschiedeten uns.
Von allen Lehrern und vom Direktor.
Ein letztes mal gingen wir über den langen Flur nach draußen.
Als wir uns noch einmal umdrehen sehen wir unzählige Schüler welche uns an den Fenstern hinterher winken.

“Hey, wartet!”, hören wir eine Stimme.
In dem Moment kommt uns ein Mädchen hinterher gelaufen. Wir bleiben stehen und erkennen…
…Es ist Gamze, das Mädchen welche uns 2 Tage zuvor in die Schule gebracht hat.
Garnicht mehr schüchtern, jedoch etwas aufgeregt, fragt sie uns wohin wir jetzt gehen.
Schulterzucken. Das wissen wir nicht.
Kurzes schweigen…
Sie sagt in bestem englisch: “Auf Wiedersehen, es war mir eine Freude euch kennenzulernen und ich wünsche euch eine gute weitere Reise.”
Diese Sätze hatte sie extra in den letzten 2 Tagen geübt…

Sie schaut uns an, 2 Fremde die von weither gekommen, und nun in eine Welt weiterziehen werden die sie auch gern durchstreifen würde…
In ihren Augen sehen wir, dass sie gern so viel mehr sagen würde, sie kann nicht.
Sie lacht, dreht sich um, und läuft zurück in die Schule.

Wir verlassen langsam den Schulhof und schauen ihr noch einmal kurz hinterher. Sie hat bald ihre Abschlußprüfung.
Und eines Tages wird auch sie diesen Schulhof für immer verlassen, voller Freude auf das Leben…

Nachwort:
Leanne ist in Koaceli geblieben und unterrichtet dort die nächsten 3 Monate an der Universität englisch.
Seit Mitte Dezember bin ich wieder allein unterwegs…

PS.: Ein Datum wie den 12.12.12 wird es erst wieder in 100 Jahren geben. Ich war sehr froh so gute Erinnerungen an diesen Tag zu haben…

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